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Nach 57 Tagen wiedergeboren


Juni 14, 2021    VFS

 

Mitte April 2021 erreichte eine zweite verheerende Covid-19-Welle Indien. Auf dem Höhepunkt Anfang Mai wurden täglich mehr als 400.000 neue Infektionsfälle erfasst – die Dunkelziffer dürfte deutlich höher gelegen haben. Einer, der davon nichts mehr mitbekam, war Kishore: er lag zu diesem Zeitpunkt schon auf der Intensivstation im COVID-19 Krankenhaus der Stiftung in Bathalapalli.

Es war der 8. April 2021 als Kishore* in die Notaufnahme kam. Die humanitäre Katastrophe die folgen würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erahnen – besonders nicht im ländlichen Südosten des Landes. Kishore hatte bereits seine gesamten Ersparnisse für die Behandlung in einem privaten Krankenhaus ausgegeben – doch die Behandlung schlug nicht an. Das Stiftung-Krankenhaus in Bathalapalli war seine letzte Hoffnung.

„Als er bei uns eintraf, dachten wir, dass er an einer akuten Lungenentzündung leidet“, erklärt Dr. Harish, Leiter der Intensivstation im Krankenhaus in Bathalapalli. Seine Sauerstoffsättigung lag bei unter 60. Im Krankenhaus hatte es zwar seit Monaten keinen COVID-19 Patienten mehr gegeben, aber sie beschlossen ihn auf COVID-19 zu testen. Kishore war positiv. Obwohl das Krankenhaus zu dem Zeitpunkt noch kein COVID-19 Krankenhaus war, nahmen sie ihn auf, da sein Gesundheitszustand sehr schlecht war.


Er wurde auf der Isolierstation untergebracht, dort war er zu dem Zeitpunkt noch ganz allein. „Als ich dort lag, hatte ich nur Angst“, gesteht Kishore. Sein Zustand verschlechterte sich weiter und so wurde er schon bald auf die Intensivstation verlegt. „Immer wieder dachte ich an meine Familie. Wie können sie sich versorgen, wenn ich nicht arbeite? Wenn ich nicht arbeite, verdiene ich kein Geld. Wenn ich nicht nähen kann, haben meine Kinder nichts zu essen… „, erzählt Kishore mit gesengtem Blick.

Wie schon sein Vater, ist Kishore ein Schneider, der Saris (ein traditionell indisches Gewand) schneidert. Er hat einen Webstuhl zu Hause und seine Frau und Kinder unterstützen ihn durch kleine Zuarbeiten bei der Arbeit. Er mag seinen Beruf und dass er viel Zeit zu Hause bei seiner Familie verbringt, doch der Verdienst reicht gerade so, um über die Runden zu kommen.

„Ich erinnere mich, dass ich sehr schwach war, ich hatte keine Hoffnung mehr… Ich konnte an nichts mehr denken, in meinem Kopf gab es nur noch eine große Leere“, sagt Kishore. Nach einem Tag auf der Intensivstation musste Kishore dann an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden und er wurde in ein künstliches Koma versetzt. Mehr als 40 Tage war er auf das Beatmungsgerät angewiesen, bevor er wieder eigenständig atmen konnte.


„Als ich ihn zum ersten Mal auf der Intensivstation sah, hatte ich nicht einmal 1% Hoffnung, dass er überleben würde“, gibt Dr. Harish zu. Er hat leider viele Fälle wie diesen erlebt und die wenigsten haben sich wieder erholt. „Ich erklärte seiner Frau den Ernst der Lage und ich sagte ihr mehrfach, dass ihr Mann wahrscheinlich nicht überleben würde. Ich wollte sie darauf vorbereiten, aber sie hat die Hoffnung nie aufgeben“, erzählt der Arzt.

HINTER DER SCHEIBE

Kishores Frau Sharmila* dachte nicht daran, die Hoffnung aufzugeben. Jeden Tag stand sie um 3 Uhr morgens auf und betete zwei bis drei Stunden. Auch dem Weg ins Krankenhaus im Bus betete sie weiter. „Ich betete zu Gott, einen Weg zu finden, um meinen Mann zu retten. Niemand glaubte an seine Genesung… Im Dorf hielten sie ihn alle schon für tot, aber das wollte ich mir nicht vorstellen. Ich brauche ihn. Meine Kinder brauchen ihn, wir sind eine Familie, ohne ihn können wir nicht weitermachen“, berichtet Sharmila.

Obwohl Sharmila wusste, dass sie nicht zu ihrem Mann konnte, fuhr sie jeden Tag ins Krankenhaus. Dort konnte sie wenigstens mit Dr. Harish sprechen, um Informationen über seinen Zustand zu erhalten. „An manchen Tagen, ließ ich sie in das Fenster zur Intensivstation schauen, damit sie ihren Mann sehen konnte“, erklärt Dr. Harish. Sie drückte ihre Hände an das Glas und versuchte ihren Mann zu ermutigen, auch wenn er sie nicht sehen oder hören konnte. „Wir haben dafür gesorgt, dass Kishore wusste, dass seine Frau ihn jeden Tag besuchte“, erklärt Dr. Harish.

An einem Tag, nachdem ein Luftröhrenschnitt erfolgreich bei Kishore durchgeführt wurde, beschloss Dr. Harish eine Ausnahme zu machen und Sharmila zu ihrem Mann auf die Intensivstation zu lassen. Sie erhielt Schutzkleidung und durfte beim Bett ihres Mannes sitzen. Sharmila war sehr glücklich, es war das erste Mal, seitdem er im Krankenhaus war, dass sie ihrem Mann körperlich nahe war und dass er ihre Stimme hören konnte. Sie sprach ihm Mut zu und erzählte von ihrer Hoffnung, dass er sich bald erholen würde und er dann seine Kinder wieder umarmen könne. „Es war seltsam, weil ich glücklich war, an seiner Seite zu sein, aber zugleich war ich sehr erschrocken über seinen Zustand. Er sah aus, als hätte er die Hälfte seines Körpergewichts verloren“, sagt Sharmila besorgt.

Die Tage vergingen und der Zustand von Kishore blieb unverändert kritisch. Erschwerend kam noch hinzu, dass Kishore im Laufe der Zeit drei Herzstillstände erlitt. Die Ärzte gaben ihr Bestes und konnten Kishore jedes Mal erfolgreich wiederbeleben. Sharmila kam weiterhin jeden Tag ins Krankenhaus, um so nah wie möglich bei Kishore zu sein. „Ich war sehr erschrocken zu sehen, dass die Patienten, die sich mit meinem Mann ein Zimmer auf der Intensivstation teilten, alle starben. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben, aber ich hatte große Angst“, gesteht Sharmila.

DIE ZWEITE WELLE

Vor 18 Tagen konnte Kishore dann endlich die Intensivstation verlassen. „Das erste, was ich sah, als ich aufwachte, war meine Frau. Gemeinsam riefen wir meine Kinder an, und obwohl ich noch nicht sprechen konnte, konnte ich wenigsten ihre Stimmen hören“, erzählt Kishore mit Tränen in den Augen. Die Kinder rufen ihn jetzt mindestens zehnmal am Tag an. Sie wollen die Zeit aufholen, in der sie nicht mit ihm sprechen konnten. Sie stellen ihm alle möglichen Fragen und wollen alles wissen. Wie geht es dir? Was hast du heute gegessen? Welches Medikament hast du bekommen? War heute ein Arzt bei dir? Was hat er gesagt? „Die Kinder haben sehr gelitten. Sie haben viel Zeit allein verbracht, weil ich ins Krankenhaus musste“, erzählt Sharmila. Glücklicherweise haben ihre Nachbarn die Familie in dieser schlimmen Zeit sehr unterstützt. Sie haben Sharmila und den Kindern Nahrung gegeben, mit den Kindern gespielt und gemeinsam für die Erholung von Kishore gebetet.

„Ein paar Tage nach dem Verlassen der Intensivstation fragte mich meine älteste Tochter, wann ich wieder arbeiten kann“, sagt Kishore mit brüchiger Stimme. Die Ärzte haben ihm vollständige Ruhe für mindestens 3 Monate empfohlen. Er muss wieder zu Kräften kommen, sein Körper ist sehr geschwächt. „Ich antwortete ihr, dass ich im Moment nicht arbeiten kann. Sie sagte mir dann, dass ich mir keine Sorgen machen solle, dass sie nichts dagegen hätte, anstatt drei, nur eine Mahlzeit am Tag zu essen, wenn ich mich dann wieder erholen würde“. Es ist wichtig und notwendig, dass Kishore für seine Familie sorgen kann. Aber jetzt will und muss er seiner Gesundheit die oberste Priorität einräumen, und er vertraut darauf, dass sie unterstützt werden.

57 Tage lag Kishore im Stiftungs-Krankenhaus in Bathalapalli. In der Zeit, in der er drei Mal wiederbelebt werden musste und gegen COVID-19 kämpfte, gab es immer mehr Menschen, die ein ähnliches Schicksal ereilte. Am 8. April 2021 gab es in Indien offiziell 130.000 Neuinfektionen – 4 Wochen später waren es schon 400.000. Die Krankenhäuser im ganzen Land waren überfüllt, es gab keine freien Betten, es gab keinen Sauerstoff. Nur Leid, wohin man auch sah. „60 % der Patienten auf der Intensivstation haben nicht überlebt und das waren viele junge Menschen, der Durchschnitt liegt bei etwa 35 Jahren“, erklärt Dr. Harish. In der ersten Welle hatten sich noch mehr als 65 % der Patienten auf der Intensivstation wieder erholt. „Es ist niederschmetternd zu sehen, wie die Patienten sterben, ohne dass man überhaupt die Möglichkeit hat, etwas dagegen zu tun. Immer wenn wir nicht mehr konnten, sind meine Kollegen und ich zu Kishore gegangen. Er war unsere Inspiration dafür, nicht aufzugeben und weiter unser Bestes zu geben“, sagt Dr. Harish.

„Heute haben wir uns alle versammelt, um uns zu verabschieden und den Beginn von Kishores neuem Leben zu feiern“, sagt Dr. Harish zu den Ärzten, die ihn während seiner langen Genesung betreut haben. Sharmila lächelt und dankt dem gesamten Team für die medizinische und emotionale Unterstützung in der schwierigen Zeit. „Dass er sich erholt hat, hat er auch dir und deinem Optimismus zu verdanken. Wenn er deine Stimme hörte, stieg seine Sauerstoffsättigung“, sagt Dr. Harish, während er Kishore zuzwinkert und ihm erzählt, dass er eine sehr starke Frau an seiner Seite hat. Lachen und Aufregung erfüllen den Raum. Als Sharmila sich dann zum Gehen bereit macht und sich ihren Rucksack aufsetzt, sagt sie zu den Ärzten: „Morgen werdet ihr mich nicht mehr aus dem Bus steigen sehen. Heute gehe ich mit meinem Mann nach Hause, und ich werde dafür sorgen, dass er nicht zurückkommt.“

* Die Namen wurden geändert, um die Privatsphäre der Personen zu schützen.

Text: Núria Navarro   Übersetzung: Vicente Ferrer Stiftung Deutschland

 



 




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