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„Wir sind für dich da, wann immer du uns brauchst.“


December 15, 2020    VFS

 

Der langwierige Kampf für die Rechte von Frauen in Indien

Doreen Reddy war über 30 Jahre lang Leiterin des Frauenprogramms der Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT). Heute leitet sie Childline, eine Notrufnummer der indischen Regierung zur Meldung von Kindesmissbrauch. Im Distrikt Anantapur werden die Anrufe von Childline in Zusammenarbeit mit der Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT) betreut.

Wir möchten von Doreen wissen, welche Maßnahmen die Stiftung ergreift, um der globalen Herausforderung, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, zu begegnen. Insbesondere in der gegenwärtigen Situation in der Pandemie.

Wenn man von internationaler Entwicklungszusammenarbeit spricht, so darf man die lokalen Gegebenheiten nicht vergessen, um globale Ziele zu erreichen. Wie würdest du die Arbeit der Stiftung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und für gesellschaftliche Gleichstellung beschreiben?

Gleichstellung der Geschlechter bedeutet, dass Männer und Frauen die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben, um ihre Ziele zu erreichen, ein würdiges Leben zu führen und ihre Talente und Fähigkeiten zu entfalten.

Will man Gewalt gegen Frauen beenden, so muss man in erster Linie die lokalen Gegebenheiten beachten, die spezifischen Probleme, mit denen die Menschen, und ganz besonders die Frauen, zu kämpfen haben.

Im Laufe meiner Tätigkeit habe ich erkannt, dass ein tatsächlicher Wandel durch Bildung und die Sensibilisierung der Menschen – Männer, Frauen und Jugendliche – erreicht werden kann. Sie mit dem Thema Gleichstellung vertraut zu machen und entsprechend zu erziehen, ist entscheidend für einen Wandel.

Auch die Sanghams sind dabei sehr hilfreich. Sanghams sind Frauenselbsthilfegruppen, in denen sich die Frauen gegenseitig unterstützen, Vorträge zu Geschlechtergleichheit besuchen, internationale Gedenktage feiern, an Programmen zur wirtschaftlichen Entwicklung teilnehmen. Und das alles gemeinsam, als Gruppe.

Auf der ganzen Welt hat die Pandemie zu vermehrten gewalttätigen Übergriffen auf Frauen geführt. Warum ist das so? Wie haben die Behörden und Organisationen in Indien auf die Situation reagiert?

Die Pandemie und der Lockdown haben zahlreiche Familien in extreme Situationen gebracht, sowohl in ökonomischer als auch emotionaler Hinsicht. Viele haben nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Lebensgrundlage verloren. Wenn sie nicht arbeiten, können sie keine Lebensmittel kaufen. Es macht sich ein Gefühl des Versagens breit, weil sie ihre Familie nicht versorgen können. Dies zieht sie in eine sehr gefährliche Spirale von Stress, Frustration und Verzweiflung. Die Opfer sind vor allem die Schwächsten – die Minderjährigen und die Frauen. Dies ist in Indien und auf der ganzen Welt gleich.
Die Regierung hat mit Unterstützung der Stiftung an bedürftige Familien Lebensmittel verteilt. Wir haben an über 8.000 Familien Vorräte verteilt und über 400.000 fertig gekochte Mahlzeiten ausgegeben.

Im Hinblick auf die Gewalt gegen Frauen ist das Engagement der Beraterinnen der Stiftung herausragend. Einige von ihnen nahmen an der Lebensmittelausgabe teil und fuhren in die Dörfer, wo sie persönlichen Kontakt zu den von ihnen betreuten Frauen und Familien halten konnten. Darüber hinaus erhielten alle betreuten Personen die Telefonnummer der Beraterin, und diese Telefonnummer wurde von einer Frau an die andere weitergegeben. Der Leitspruch war „Wann immer du uns brauchst, wir sind für dich da.“ Niemand sollte sich allein gelassen oder schutzlos fühlen, ist doch ein Lockdown schon belastend genug.

Du betreust Childline in Anantapur. Habt ihr mehr Anrufe seit Beginn der Pandemie erhalten? Und wenn ja, warum?

Childline ist eine Notrufnummer für Kinder. Im Distrikt Anantapur ist die Stiftung seit 2005 mit der Betreuung dieser Notrufnummer betraut. Während des Lockdown war sie an sieben Tagen rund um die Uhr besetzt, um Anrufe entgegenzunehmen, die die Verletzung von Kinderrechten aufzeigen wollten.
Tatsächlich hat die Zahl dieser Anrufe in den letzten Monaten zugenommen. Ich vermute, dies hat mit den Schulschließungen zu tun. Seit März sind die Schulen geschlossen, und erst seit kurzem gibt es wieder Präsenzunterricht für die Oberstufen, die 8., 9. und 10. Klassen. Viele Familien wollen aber aus Angst vor Ansteckung nicht, dass ihre Kinder in die Schule gehen. Die unsichere Zukunft, welcher sich die Familien gegenübersehen, veranlasst sie dazu, ihre Kinder arbeiten zu schicken und ihre Töchter frühzeitig zu verheiraten.

Die Schulschließungen haben auch eine enorme Auswirkung auf die Ernährung der Kinder aus armen Familien. Für sie war das Mittagessen in der Schule oft die einzige wirkliche Mahlzeit am Tag.
Wenn wir bei Childline einen Anruf erhalten, sei es von einem Nachbarn, einer Nachbarin, einem Familienmitglied oder vom betroffenen Kind selbst, so setzen wir in Absprache mit der Polizei, dem Child Welfare Comitee und dem Ministerium für die Entwicklung von Frauen und Kindern ein Verfahren in Gang.

In den letzten Monaten haben wir zusammen mit den Behörden von Andhra Pradesh an der „Operation Muskaan“ teilgenommen, bei der mehrere öffentliche Stellen koordiniert bei Fällen von Kinderarbeit oder anderen Rechtsverletzungen eingriffen. Dank dieser Initiative konnte insgesamt 2.206 Kindern im Bundesstaat Andhra Pradesh (417 davon im Distrikt Anantapur) geholfen werden.

In den mehr als 25 Jahren deiner Tätigkeit als Leiterin des Bereichs „Frauen“ hast du dich auch für die Organisation von Workshops zu geschlechtsspezifischen Themen für Jugendliche zwischen 11 und 20 Jahren eingesetzt. Könntest du uns mehr über diese Workshops und ihre Ziele erzählen und wie sie aufgenommen wurden?

Bei der Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT) glauben wir, dass Männer und Frauen über die gleichen Rechte und Möglichkeiten verfügen müssen, um ein würdiges Leben zu leben. Um dies zu erreichen, haben wir angefangen mit erwachsenen Frauen und Männern zu arbeiten, manchmal zusammen, manchmal getrennt.

Bei den Vorträgen für Männer haben wir besonders die geschlechterspezifischen Rollen betont, die kulturell bedingte Diskriminierung von Frauen, die stark in den patriarchalen Werten verwurzelt ist, die Benachteiligung beim Zugang zu Bildung, die Gefahren frühzeitiger Eheschließungen.
Den Frauen musste zunächst bewusst gemacht werden, dass sie diskriminiert wurden. Vieles, was uns heutzutage als unverzeihlich erscheint, wie gewalttätige Übergriffe auf Frauen, die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit …… wurden jahrzehntelang als normal erachtet. So mussten wir diesem Verhalten die Normalität entziehen und im nächsten Schritt von den Rechten der Frauen sprechen, von ihren gesetzlich festgelegten Möglichkeiten, von den Ursachen der Diskriminierung. Sehr langsam und stufenweise stellte sich ein Wandel ein.

Wir sind davon ausgegangen, dass Diskriminierung erst gar nicht entstehen würde, wenn wir bereits mit Heranwachsenden arbeiten würden. So kann Wandel schneller vollzogen werden. Wir fingen also an, auch mit Jugendlichen zu arbeiten, ohne die Arbeit mit den Erwachsenen aufzugeben.

Ich erinnere mich an die erste Veranstaltung mit Jugendlichen in Kuderu. Als wir eintrafen, war niemand da. So gingen wir durch das Dorf, um zu sehen, was los war. Sie sagten uns, sie wollten nicht kommen, das Thema beträfe sie nicht, das wären Angelegenheiten der Mädchen. Wir erklärten ihnen, dass wir von Dingen sprechen wollten, die sie sehr wohl betreffen würden, es um ihre Zukunft ginge, um ihr Glück, ihr Wohlergehen, und nicht nur um das ihre, sondern auch um das ihrer Schwestern und Mütter. Schließlich willigten sie ein und nach der ersten Runde waren sie es, die weitermachen wollten.

Du hast jahrelang mit Frauen gearbeitet, die Traumatisches und viel Leid durchlebt haben. Wir haben erlebt, wie empathisch, respektvoll und vorurteilslos du ihnen begegnet bist. Was braucht die Welt, damit diese Art der Gewalt beendet wird? Was muss sich ändern, um eine gewaltfreie Welt Wirklichkeit werden zu lassen?

Gewalt gegen Frauen ist ein strukturelles Problem, kein Problem, das nur Familien betrifft. Wir können dieses Geschwür nur heilen, wenn wir verstehen, dass es sich um ein systemisches, tief in der Gesellschaft verwurzeltes Problem handelt.

Wir müssen bei uns selbst beginnen, unser Verhalten, unsere Einstellungen, unser Denken analysieren. Damit wir verstehen, wie das patriarchale System uns von Geburt an prägt, um dies dann zu ändern.
Sensibilisierung und Bildung sind unverzichtbar, um mit Jahrhunderten von Benachteiligung und diskriminierenden Bräuchen aufzuräumen. Es braucht sowohl ein individuelles als auch kollektives Bewusstsein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Druck der Gemeinschaft, der Gesellschaft ungemein wichtig ist, damit Gewalt gegen Frauen und die Diskriminierung von Frauen nicht mehr als normal betrachtet werden.

Dieser Druck muss Hand in Hand gehen mit Gesetzen, die das Opfer schützen, ihm Sicherheit geben, ihm Unterstützung gewähren und vor allem sein Vertrauen gewinnen. In diesem Zusammenhang ist die Beratung sehr wichtig, damit Frauen, die diesen Prozess durchlaufen, wissen, sie sind nicht allein, sie verfügen über Mittel und Wege, sich dem zu stellen, und es gibt eine Alternative für sie.

Es ist an der Zeit zu verstehen, dass die Menschenrechte auch die Rechte von uns Frauen sind, und dass der Beitrag, den Millionen von Frauen Tag für Tag leisten, um ihre Familien zu versorgen, ihre Gemeinschaften und ganze Länder voranzubringen, geschätzt wird. Wenn wir unsere Arbeit niederlegen, steht die Welt still, und dies muss allen bewusst sein.

 

Interview: Aina Valldaura und Raquel Artiles
Aus dem Spanischen übersetzt von Irene Holzschlag



 




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