Vor mehr als 40 Jahren kam Nagamma* auf der Suche nach einem besseren Leben in die Stadt Nellore. Auf dem Friedhof von Bogadi Thotu, eingebettet zwischen einer Mülldeponie und einem Krematorium, ließen sich Nagamma und ihr Mann sowie 250 weiteren Familien nieder. Der Traum von einem besseren Leben erfüllte sich für die Familien auf dem Friedhof jedoch nicht. Im Gegenteil: In den folgenden Jahrzehnten lebten sie unter menschenunwürdigen Umständen.
„Fast alle Frauen vom Friedhof haben Herzprobleme“, sagt Nagamma „Schau dich in der Gegend um und du weißt, warum. Der ständige Gestank und die Keime von der Mülldeponie machten meine Tochter krank. Sie bekam Probleme mit dem Herzen, aber wir konnten uns keine Behandlung im Krankenhaus leisten und so starb sie mit nur 21 Jahren“, erzählt Nagamma mit tränenerstickter Stimme. „Das Schicksal meinte es nicht gut mit uns. Ich habe sie auf dem Friedhof geboren und musste sie dort, viel zu früh, beerdigen.“
Im Slum von Bogadi Thota lebten die Menschen in selbst gebauten Hütten aus Plastikplanen und Holzbrettern, ohne Strom, Wasser, sanitäre Einrichtungen oder Müllentsorgung. Den Lebensunterhalt verdienten sich die meisten Bewohner mit dem Sammeln von Abfällen von der Mülldeponie. In Indien leben schätzungsweise 8,8 Millionen Familien in mehr als 33.000 Slums. Slums bilden sich in der Regel am Rande von Städten und beherbergen Menschen, die versuchen aus der extremen Armut zu entkommen und auf der Suche nach Arbeit in die Städte ziehen.
Im Jahr 2016 trat M. Janaki, der Gouverneur des Bezirks Nellore, an die Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT) heran und bat sie um Hilfe bei der Entwicklung eines Wohnprojekts für die Familien von Bogadi Thota. „Sicheres Wohnen ist ein Grundrecht. Als wir sahen, unter welchen Bedingungen die Menschen auf dem Friedhof lebten, waren wir fassungslos. Wir sind vieles gewohnt, wir arbeiten schon lange in den ärmsten Gegenden Indiens, aber die Lage hier war schwer zu ertragen: Wir sahen Kinder, die zwischen Müllbergen mit Knochen spielten“, erklärt Moncho Ferrer, der Programmdirektor der Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT). Ohne zu zögern, sagte die Stiftung den Bau eines Wohngebietes zu, in dem alle 251 Familie vom Friedhof Platz finden würden.
“Heute geht es den Menschen deutlich besser. Sie sind glücklich, endlich in den eigenen vier Wänden zu wohnen und sehr stolz darauf, aktiv am Bau ihrer Häuser beteiligt gewesen zu sein“, erklärt Ferrer. Die neu gebauten Häuser haben ein Wohn- und ein Schlafzimmer, sowie eine Küche und eine separate Toilette. Sie wurden entsprechend der klimatischen Bedingungen der Region geplant, um Schutz sowohl vor den hohen Temperaturen im Sommer als auch vor starken Regenfällen während der Monsunzeit zu bieten.
Der 43-jährige Familienvater Danashekhar* wurde in Bogadi Thotu geboren und verbrachte dort sein ganzes Leben. „Ich konnte mir nie ein Leben außerhalb des Friedhofs vorstellen“, erzählt er, bevor ein Hustenanfall ihn unterbricht. „Ich habe Asthma. Jeder Mensch hier ist krank“, fährt er fort, während er seine Sachen für das neue Haus packt. „Ich erinnere mich noch daran, wie schwer es mir hier fiel für die Schule zu lernen. Das ist kein Ort zum Lernen. Ständig der üble Geruch, die verunreinigte Luft und Dunkelheit, sobald die Sonne untergegangen ist.“
Danashekhar ist erleichtert, dass seine drei Kinder in ihrem ersten eigenen Zuhause bessere Lernbedingungen vorfinden. Seine Tochter Niharika*, die in die 4. Klasse geht, erzählt: „Früher bin ich bereits um 5 Uhr morgens in die Schule gegangen. So hatte ich genug Zeit, meine Hausaufgaben zu machen und bekam keinen Ärger von meinem Lehrer, weil ich meine Hausaufgaben nicht hatte. „Ich fürchtete mich auch vor den Nächten auf dem Friedhof. Manchmal kamen Menschen, deren lautes Weinen und Klagen über den ganzen dunklen Friedhof zu hören war. Das machte mir große Angst“, sagt sie.
„Mein großer Traum ist es, Polizist zu werden. Jetzt kann ich viel besser lernen. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bin ich vielleicht schon einer!“ ruft der 13-jährige Nachbarsjunge Sanjay* mit strahlenden Augen.
In Indien sind schätzungsweise 19 Millionen Kinder obdachlos. Mit ihren Familien verbringen sie ihr Leben ausgegrenzt und schutzlos. Mit Hilfe von Spenden errichtet die Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT) Wohnhäuser in den Bundesstaaten Andhra Pradesh und Telangana. Seit 1975 wurden über 80.000 Häuser gebaut, die bedürftigen Familien ein Leben in Würde ermöglichen.
* Namen zum Schutz der Personen geändert
Text: Dyuti Khulbe/RDT Übersetzung: Vicente Ferrer Stiftung in Deutschland