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Die unsichtbaren Mütter Indiens


Mai 6, 2022    VFS

 

In Indien gelten Mutterschaft und familiäre Fürsorge traditionell immer noch als wichtigste Aufgaben von Frauen. Besonders im ländlichen Indien spüren Frauen eine soziale Verpflichtung zur Mutterschaft, der sie sich kaum entziehen können und dessen Verdienste und Herausforderungen selten gewürdigt werden. Anlässlich des heutigen Muttertags haben wir drei kurze Geschichten von Müttern in unserem Projektgebiet in Südindien zusammengetragen. Sie stehen stellvertretend für die Erfahrungen von Millionen indischer Frauen, die Stigmata und Diskriminierungen ausgesetzt sind und dennoch versuchen sich gegen das Patriarchat zu wehren.

 

Als junge Witwe in Indien

Heute können Krishaveni, 48, und ihre Töchter Bharathi und Gowthami wieder lachen. Doch bis dahin war es ein langer Weg. Im Jahr 2006 beging Krishavenis Ehemann Selbstmord, indem er sich mit Petroleum übergoss und anzündete. Dabei kamen auch fast Krishaveni und ihre damals sechsjährige Tochter Bharathi ums Leben. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich von den Geschehnissen erholt hatten, doch das Schlimmste stand der kleinen Familie noch bevor. Als Witwe hatte Krishaveni mit finanziellen Schwierigkeiten und Ablehnung durch Nachbarn und sogar ihre eigene Familie zu kämpfen: „Sie machten mich nicht nur verantwortlich für das, was passiert war, sondern mieden mich auch, weil sie dachten, ich würde auch ihnen Tod und Verderben bringen.“ Dann erfuhr Krishaveni auch noch, dass ihr Ehemann sie mit HIV angesteckt hatte.

Ohne Rückhalt in ihrem Umfeld, in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen und gesundheitlich angeschlagen, war Krishaveni kurz davor aufzugeben. Nur die Gedanken an ihre Töchter und die Unterstützung durch die Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT) ließen sie weiterkämpfen. Heute steht Krishaveni wieder auf eigenen Beinen. Sie betreibt ein kleines Geschäft für Saris. Auch den beiden Töchtern geht es gut, in einer lokalen Zeitung wurde über die herausragenden Noten von der älteren Tochter Gowthami berichtet. Krishaveni hat sich den Respekt der Menschen in ihrer Umgebung erkämpft. Bharathi und Gowthami studieren Wirtschaftsingenieurwesen und Elektrotechnik und träumen davon, in eine große Stadt zu ziehen. Ihre Mutter ist ihr Vorbild und sie bewundern „ihren Mut und ihre Entschlossenheit, uns alles zu ermöglichen“. Deshalb werden sie sie nicht zurücklassen, wenn sie jemals in die Stadt ziehen: „Wir werden keinen Mann heiraten, der nicht zustimmt, dass unsere Mutter bei uns leben kann.“

 

Die Bürde der Mitgift

„Meine Familie wird mit uns enden, ich habe es nicht geschafft, einen Erben hervorzubringen“, erzählt Nagamma. Nicht nur ihre eigene Frustration darüber macht ihr zu schaffen, sie wird auch von ihren Familienangehörigen immer wieder daran erinnert, dass sie keinen männlichen Nachkommen auf die Welt gebracht hat.

Als Nagammas Mann im Krankenhaus nach der Geburt des zweiten Kindes erfuhr, dass auch das zweite Baby ein Mädchen ist, ging er einfach nach Hause, ohne nach seiner Frau oder dem Neugeborenen zu schauen. Diese für europäische Verhältnisse unverständliche Reaktion hat einen ernsten Hintergrund: Obwohl die Zahlung einer Mitgift in Indien mittlerweile illegal ist, ist diese Tradition in ländlichen Regionen noch weit verbreitet. Bei der Hochzeit muss die Familie der Tochter dem Bräutigam eine hohe Geldsumme als Mitgift zahlen – das treibt nicht selten Familien in den finanziellen Ruin. „Ich mache mir Sorgen um meine Zukunft, weil sich niemand um uns kümmern wird und wir kein Geld haben werden.“ In der Regel leben Töchter nach der Hochzeit bei der Familie des Ehemannes und kümmern sich um die Schwiegereltern. Aber Nagammas Töchter Masana und Siva Kavya, mittlerweile 13 und 10 Jahre alt, versprechen ihr, sich immer um sie kümmern zu wollen. Die beiden Mädchen möchten Ärztin werden und sind sehr fleißig in der Schule. „Unsere Mutter hat uns eingebläut, wie wichtig Bildung ist, deshalb geben wir unser Bestes“, sagt Masana.

 

Die „Unreinheit“ der Gola-Mütter

In vielen Dörfern, in denen der Stamm der Gola lebt, werden noch heute die alten Bräuche und Traditionen aufrechterhalten. Viele haben zur Folge, dass die Frauen des Stammes stark diskriminiert werden. So gibt es beispielsweise strenge Vorgaben für menstruierende Frauen oder für Frauen nach einer Geburt. Nach der Entbindung müssen sich die Frauen mit ihren Babys für 40 Tage in winzigen Strohhütten isolieren. In der Hütte sind sie Hitze oder Kälte sowie Gefahren durch Skorpione, Schlangen oder Insekten schutzlos ausgeliefert. Die Blutung nach der Geburt wird als unrein und als Gefahr für andere erachtet. Nur Frauen dürfen sich den jungen Müttern und den Babys in dieser Zeit nähern. So erging es auch Bhagyamma (26). Sie lebt in Madakasira und wurde während ihrer Verbannung in die Strohhütte von ihrer Schwester mit Essen und Wasser versorgt. Die Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT) ist in engem Austausch mit der Stammesgemeinschaft und in einigen Dörfern konnten sie die Menschen vor Ort bereits davon überzeugen, an diesem ungesunden und demütigenden Brauch für Frauen nicht länger festzuhalten.

 

Text: Rachel Artiles Gaillard  Übersetzung: Vicente Ferrer Stiftung in Deutschland

 



 




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