„Sollen wir die Tür schließen?“
„Nein, lieber nicht. Die Nachbarn werden sonst misstrauisch und versuchen uns zu belauschen.”
Wir befinden uns in einem kleinen Haus im Seidenviertel von Hindupur, einer Stadt an der Grenze zwischen den indischen Bundesstaaten Karnataka und Andhra Pradesh. Im Haus gibt es nur ein Zimmer und ein Bett, welches sich Lakshmi* (38) und ihr Ehemann Narasimha* (42) mit ihren beiden Kindern Preeti* (15) und Praveen* (18) teilen. Vier Eimer und ein Schrank sind die einzigen Dinge, die im Raum ins Auge fallen. Die Familie verdient ihr Lebenseinkommen mit der Herstellung von Seidenfäden.
Es ist 11 Uhr. Lakshmi und ihr Ehemann warten auf Mina Kumar, eine Kontaktperson der Vicente Ferrer Stiftung, die sie jeden Monat besucht, seit bei ihnen die HIV-Diagnose gestellt wurde. Das Ziel von Mitarbeiterinnen wie Mina ist es, die regelmäßige Einnahme der Medikamente zu überwachen, den Gesundheitszustand zu überprüfen, Fragen zu klären und die Betroffenen emotional zu unterstützen.
Nach Angaben der indischen National Aids Control Organization (NACO) lebten 2017 in Indien mehr als 2,1 Millionen mit HIV, die zweitmeisten davon in Andhra Pradesh. Dort ist die Vicente Ferrer Stiftung hauptsächlich tätig und betreibt auch ein Krankenhaus für Infektionskrankheiten. Die Vicente Ferrer Stiftung verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz in Bezug auf HIV / AIDS, indem es nicht nur medizinische Versorgung bietet, sondern auch ein Netzwerk mit Mitarbeitenden vor Ort hat, die sich um die nicht-medizinischen Belange kümmern. Die enge Zusammenarbeit mit den Betroffenen hat sich in Indien und weltweit als eine der wirksamsten Methoden erwiesen, um die notwendige medizinische Behandlung auf Dauer aufrecht zu erhalten und um den Menschen zu helfen, mit dem verbundenen Stigma umzugehen.
Mina Kumar begleitet die Familie seit deren Behandlung im Krankenhaus der Stiftung vor einigen Jahren. Sie war die erste außenstehende Person, der Lakshmi begegnet ist, die eine HIV Erkrankung hat. Heute ist Mina, neben ihrem Arzt, die Einzige, mit der Lakshmi offen über ihre Ängste und Zweifel sprechen kann. „Vor meiner Diagnose wusste ich nichts über die Krankheit. Ich hatte im Fernsehen davon gehört, aber ich hätte nie gedacht, dass mir das passieren könnte “, erzählt Lakshmi.
Plötzlich wird es still im Raum, als Preeti, die jüngste Tochter des Paares, das Haus betritt. Sie weiß nichts vom „Problem“ ihrer Eltern, wie Lakshmi es nennt. Als sie wieder geht, können sie weiter sprechen. Plötzliche Stille, Flüstern, Geheimwörter und versteckte Medikamente gehören seit Jahren zum Alltag.
Preeti’s großer Bruder weiß um die Situation der Eltern. Auch er musste die Konsequenzen der Erkrankung seiner Eltern tragen. Mit 16 Jahren hat er die Schule abgebrochen, als bei seinem Vater HIV und Tuberkulose diagnostiziert wurden, um die Familie so finanziell unterstützen zu können. Lakshmi kümmerte sich im Krankenhaus um ihren Ehemann. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass auch sie sich mit dem Virus infiziert hatte.
Die Auswirkungen von HIV/AIDS gehen über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinaus. Insbesondere für arme und bereits benachteiligte Gemeinschaften wiegen die sozialen und wirtschaftlichen Folgen schwer. Häufige Arztbesuche wirken sich direkt auf das Einkommen derer aus, die als Tagelöhner arbeiten. Staatliche Einrichtungen bieten kostenlose HIV Therapien an, doch die Nebenwirkungen sind stark und die Reisekosten zu den Kliniken können sich viele nicht leisten.
Wenn die Nachbarn oder ihr Chef in der Seidenwerkstatt, in der Lakshmi und ihr Mann 12 Stunden am Tag arbeiten, fragen, warum sie so oft zum Arzt gehen, geben sie immer die eine Antwort: „Mein Mann hat Tuberkulose.“ HIV ist ein verbotenes Wort. „Sie würden uns aus dem Haus, dem Dorf und der Arbeit werfen. Es wäre unser Ende“, sagt Lakshmi.
Bevor Mina die Nachbarschaft wieder verlässt, besucht sie weitere Familien. Das sind, wie Mina sie bezeichnet, „Alibi-Besuche“, damit niemand Verdacht schöpft, aus welchem Grund Mina Lakhshmi und ihren Mann besucht. „Ein Mangel an Diskretion kann ihr Leben ruinieren„, sagt Mina. „Geheimhaltung, Lügen und Täuschung gehen mit der Krankheit einher und diese werden selten behandelt„, fügt sie noch hinzu. Genau deswegen ist die Arbeit von Organisationen, die eng mit den Betroffenen vor Ort arbeiten, entscheidend. Regelmäßige Besuche von Beraterinnen wie Mina helfen Menschen mit HIV, nicht nur Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung zu erhalten, sondern auch, mit dem Stigma HIV umzugehen und sich ihr Leben nicht zerstören zu lassen.
„Vor einiger Zeit hat mir jemand gezeigt, dass HIV nicht den Tod bedeutet. Ich versuche nur, dasselbe zu tun „, sagt Mina, bevor wir uns von ihr verabschieden.
Text: Felita Viegas und Aina Valldaura. Übersetzung: Vicente Ferrer Stiftung Deutschland