Das Herz der Fachschulen
Auch in Zeiten von Corona die Hoffnung nicht verlieren – ein Praxisbericht
Ein Text von Jose Antonio Hoyos
Koordinator Fachschulen der Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT)
Ab dem 19. März wurden in Indien restriktive Maßnahmen im Kampf gegen das Corona-Virus ergriffen: Schulen, Universitäten und alle Bildungszentren im Land wurde zur Eindämmung des Virus geschlossen. Schweren Herzens musste auch ich den gesamten Unterricht in unseren Fachschulen einstellen, die Türen der Schulen schließen, an denen mein Herz liegt. Studierende sowie Lehrende standen von heute auf morgen vor großen Herausforderungen und einer unsicheren Zukunft.
In den Fachschulen unterrichten wir junge Universitätsabsolventen aus benachteiligten sozialen Gemeinschaften und armen Familien in Englisch, Deutsch, Spanisch und Französisch. Begleitend hierzu bereiten wir die jungen Studierenden mit intensiven Bewerbungstrainings und IT-Kursen darauf vor, fit für den Einstieg in den internationalen Arbeitsmarkt zu werden.
In nur vier Monate hätten die Studierenden ihre Studien abgeschlossen, wären sie bereit gewesen, eine gutbezahlte Arbeit anzutreten, und mit dem ersten Gehalt ihre Familien zu unterstützen. Den eigenen Eltern etwas von dem wiederzugeben, was man als Kind selbst bekommen hat, ist in der indischen Familientradition so wichtig. Der Corona-Virus hat diese Aussicht in weite Ferne rücken lassen.
In den folgenden Tagen verschlechterte sich die aktuelle Lage in Europa zusehends. Viele Lehrende mussten aus familiären und persönlichen Gründen in ihre Heimatländer zurückkehren und damit ihre Studierenden in dieser ungewissen Zeit zurücklassen. Auch neue Freiwillige, die als Sprachenlehrende ihre Stelle antreten wollten, konnten nicht nach Indien einreisen. Die Fachschulen hatten plötzlich keine Studierenden und auch keine Lehrenden mehr.
Ich hatte das Gefühl, dass das ganze Fachschulen-Projekt auseinander brechen würde. Der Studienplan ist sehr eng getaktet, anspruchsvoll und akademisch intensiv. Er erlaubt daher keine längeren Unterbrechungen. In elf Monaten lernen die Studierenden von Null auf Hundert eine völlig neue Sprache auf B1-Niveau. Tatsächlich sage ich immer, dass wir eigentlich von der Stufe minus 1 starten, da die Muttersprache der Sprachenschüler Telugu ist. Telugu ist eine dravidische Sprache, die nicht nur ein anderes Alphabet hat als das unsere, sondern auch den Sprachen, die wir unterrichten, nicht ähnelt. Sie ist sozusagen eine andere Sprachgalaxie.
Am selben Tag der Mitteilung über die Schließung trafen alle Lehrenden zusammen. Wir wollten es nicht zulassen, dass das Corona-Virus unseren Studierenden die Chance auf ihren Abschluss nimmt. Es stand zu viel auf dem Spiel. Wenn Präsenzkurse wegen der Kontaktbeschränkungen nicht stattfinden konnten, mussten wir andere Wege suchen.
Was vor 10 Jahren noch undenkbar war, ist durch die heutige Vernetzung über Online- Tools wie WhatsApp, Facebook, Google Classroom, Schoology, Zoom, Skype etc. Realität geworden: Die Möglichkeit zum ortsungebundenen Lernen. Mit dem Handy würden wir unsere Studierenden selbst in den entlegensten Gebieten des ländlichen Indiens erreichen.
Alle Lehrenden waren sich einig: das Hilfs-Projekt muss fortzuführen sein, auch wenn wir die Schulen schließen mussten. Wir hatten noch zu viel voneinander zu lernen, zu viel zu geben. Wir haben seitdem eine Woche lang online unterrichtet. Die Studierenden loggen sich aus ihren Dörfern ein, nehmen an Telefonkonferenzen teil, machen ihre Hausaufgaben, stellen Fragen, schicken Audio- und Videodateien.
Upendra, ein Französisch-Student, schrieb mir gestern: „Durch die kritische Situation um Corona ist das ganze Land isoliert, aber wir sind durch den Online-Unterricht nicht voneinander getrennt, wir bleiben zusammen. Darüber sind wir glücklich.“
Mir wurde klar, dass das Herz der Fachschulen lebendig war und dass nichts drohte auseinander zu brechen, sondern etwas Neues angefangen hatte zu schlagen.
Natürlich müssen wir uns mit neuen Problemen auseinandersetzen: Mit Internetverbindungen, die nicht immer gut sind, mit langen Ladezeiten und wechselnden Lernbedingungen. Das Wichtigste aber, das wir alle gelernt haben, geht über die Sprachen, die wir unterrichten, und die Umstände, in denen wir Sprache vermitteln, hinaus. Denn wir haben gesehen, dass die Schule – wie die Energie – nicht zerstört, sondern nur transformiert werden kann. Deshalb ist sie gegen alles immun, und kein Virus kann sie aufhalten.
Heute ist Unterricht!