„Es war Mitternacht, als die schwangere Frau das Stiftungs-Krankenhaus in Kalyandurg erreichte. Sie hatte Wehen bekommen, aber das Baby war in Beckenendlage. Das Geburtshilfeteam handelte sofort und führte einen Kaiserschnitt durch, aber die Frau verlor viel Blut und sie hatte eine seltene Blutgruppe. Es war mittlerweile 3 Uhr morgens, aber es würde noch weitere 5 Stunden dauern bis das dringend benötigte Blut aus der Blutbank im Krankenhaus eintraf, da es durch die wegen des Corona-Virus verhängte Ausgangssperre viele Einschränkungen gab. Als das Blut endlich da war, hatte die junge Mutter bereits viel Blut verloren. Wir haben es geschafft, sie am Leben zu halten und sie in das nächstgrößere Krankenhaus verlegt. Sie wurde dort aufgenommen, aber ihr Leben konnte nicht gerettet werden.”
Das sind die Schilderungen von Dr. Bala, dem Direktor der Stiftungs-Krankenhäuser in Indien und Facharzt für Gynäkologie, als er nach den Auswirkungen der Ausgangssperre auf die Gesundheit von Frauen in Indien gefragt wurde. “Vielleicht, und nur vielleicht, in einem anderen Kontext und zu einer anderen Zeit hätten wir ihr Leben retten können“, fügt er mit einem Seufzer an.
Solche Gedanken und Situationen vergrößern die ohnehin schon große emotionale und berufliche Belastung, der das medizinische Personal momentan ausgesetzt ist.
Archivbild einer Vorsorgeuntersuchung einer Schwangeren im Stiftungs-Krankenhaus
Seit Beginn der Pandemie hat das medizinische Personal der Krankenhäuser der Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT) noch weitere Probleme beobachtet. „Es sind nicht nur der Mangel an verfügbaren medizinischen Einrichtungen oder die Schwierigkeiten diese zu erreichen, weil es an Transportmöglichkeiten fehlt. Aus Angst vor dem Virus führen viele Mediziner keine gründlichen Untersuchungen mehr durch oder lehnen die Behandlung von Patienten ab, die Symptome von COVID-19 zeigen“, bemerkt Dr. Bala. Das erhöht den Druck auf die wenigen Gesundheitszentren, die offen bleiben und nicht als exklusive COVID-19-Zentren ausgewiesen wurden.
In normalen Monaten gab es im Stiftungs-Krankenhaus in Kalyandurg durchschnittlich 600 Geburten, seit der Corona-Krise ist die Anzahl auf 750 im Monat gestiegen. „Wir haben ein engagiertes Team, aber auch das kann die gestiegene Belastung nicht auffangen. Wir nehmen jetzt auch Risiko-Fälle auf, da viele Krankenhäuser, an die wir die Patientinnen sonst verwiesen haben, keine Patienten und Patientinnen mehr aufnehmen. Ähnlich ist es auch mit Laboruntersuchungen. Wir befinden uns in einer ländlichen Gegend und sind auf Labore in Städten wie Hyderabad oder Bangalore angewiesen. Aufgrund der Ausgangssperre können wir keine Untersuchungen mehr durchführen, die eine Auswertung im Labor erfordern und sind damit völlig auf uns gestellt.“
Archivbild von Patientinnen der gynäkologischen Abteilung im Stiftungs-Krankenhaus.
Ein weiterer Grund zur Besorgnis ist die Blutknappheit und der drastische Rückgang an Blutspenden. Dieses Problem betrifft nicht nur Notfälle und Operationen, sondern auch Menschen, die regelmäßige Bluttransfusionen benötigen, beispielsweise Thalassämie-Patienten. Dr. Bala fügt hinzu: “Abgesehen davon, dass die Menschen nicht ins Krankenhaus kommen, um Blut zu spenden, ist es für uns aufgrund der Ausgangssperre auch schwierig, Blut zu transportieren und medizinische Materialien zu beschaffen.”
Seit Beginn der Ausgangssperre in Indien hat das Stiftungs-Krankenhaus Kalyandurg als vorbeugende Maßnahme die Anzahl der Nachsorgeuntersuchungen für schwangere Frauen im Krankenhaus reduziert, alle nicht-lebensnotwendigen Untersuchen der Geburtshilfe- und Gynäkologieabteilung abgesagt und Triage Punkte an allen Krankenhauszugängen eingerichtet.
„Wir setzen alle Richtlinien um, um die Ausbreitung von COVID-19 in unserem Krankenhaus zu verhindern, um die Sicherheit unserer Mitarbeitenden und Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Doch der Preis, den wir dafür zahlen müssen ist hoch: Wir verpassen die Chance, Risiken und Krankheiten frühzeitig zu erkennen, und das ist ein großer Rückschritt. Die Zahl der Frauen, die sich weigern, ins Krankenhaus zu gehen, und sich entschließen, zu Hause, ohne ausreichende medizinsche Versorgung zu entbinden, hat ebenfalls zugenommen“, erklärt er.
Archivbild von Dr. Bala während einer Sprechstunde im Stiftungs-Krankenhaus
Dr. Bala und der Rest des medizinischen Teams in Kalyandurg sind frustriert, traurig und müde, aber ihr Engagement ist unbeirrt. „Ich musste auch meine eigenen jährlichen medizinischen Kontrolluntersuchungen verschieben. Mein Zuckerwert war sehr hoch bei meinem letzten Check-up, aber mein Arzt riet mir vorerst von einem weiteren Check-up ab. Wenn das selbst mir so geht, wie soll es erst den Menschen in abgelegenen Dörfern gehen? Das neuartige Coronavirus wirkt sich nicht nur auf diejenigen aus, die es infiziert, sondern auf alle. Für uns Mediziner ist jetzt die Zeit unser Bestes zu geben, während wir an vorderster Front gegen die Pandemie kämpfen“, schließt er.
Das Netzwerk der Stiftungs-Krankenhäuser in Indien behandelt nicht nur COVID-19-Patienten, sondern auch Patienten mit anderen Krankheiten sowie Notfälle. Wir brauchen jede Unterstützung, um unsere lebensrettende Arbeit fortzusetzen: www.vfstiftung.de/spenden.