Seit 1947 ist Indien unabhängig, aber Frauen in Indien sind immer noch nicht unabhängig. Frauen und Männer sind in diesem Land immer noch nicht gleich. Viele in unserer Gesellschaft glauben, dass wir Frauen nicht alleine leben können, dass es bestimmte Dinge gibt, die wir nicht tun können. Die lieber einen Sohn, anstelle einer Tochter, hätten, um keine Mitgift bezahlen zu müssen, und die vor allem glauben, dass wir jemanden brauchen, der uns beschützt. Deshalb muss jede Frau in Indien heiraten. Gerade in ländlichen Regionen schlägt denjenigen, die Single bleiben und nicht heiraten wollen, immer noch viel Unverständnis und Verurteilung entgegen.
In diesem Kommentar möchte ich aus meinem Leben berichten. Zum Beispiel wollten meine Eltern um jeden Preis einen Sohn haben. Meine Mutter bekam vier Töchter, bevor sie endlich einen Sohn zur Welt brachte. Dieser Wunsch musste unbedingt erfüllt werden, auch, wenn meine Familie nicht viel Geld hat.
Eine Freundin von mir hat geheiratet, als sie 25 Jahre alt war. In den ersten Jahren der Ehe lief alles gut. Sie bekamen drei Söhne und ihr Ehemann respektierte sie. Irgendwann begann sich die Beziehung zwischen den beiden jedoch zu verschlechtern. Meine Freundin wollte ihren Mann verlassen und sich scheiden lassen, aber sie wusste nicht, wie es dann weitergehen sollte. Sie hatte ihr Studium abgebrochen, sie hatte keinen Job, kein eigenes Einkommen oder Eigentum. Sie hatte nichts. Während ich diese Zeilen schreibe, ist sie immer noch bei ihrem Mann. Sie hat keine Berufsausbildung und kann nicht alleine für den Lebensunterhalt für sich und ihre drei Söhne sorgen.
Umso glücklicher kann ich mich schätzen, dass ich die Chance erhalten habe zu studieren. Gleichzeitig macht mich das Schicksal der Frauen sehr traurig, denen die Chance auf eine unabhängige Zukunft genommen wurde.
Hätte meine Freundin eine Ausbildung gehabt und ihr eigenes Einkommen, hätte sie ihre unglückliche Ehe hinter sich lassen und ein neues Leben mit ihren Kindern beginnen können. Sie wäre frei gewesen. Mit diesem Wissen wird sie den Rest ihres Lebens leben müssen. Bildung ist ein Menschenrecht und wir Frauen sollten darauf bestehen.
Die Gesellschaft wird immer versuchen, Frauen gefügig zu machen. Aber Bildung wird uns die Kraft geben, uns dem entgegenzustellen. Ich setze viel Hoffnung in meine Generation. Die Alphabetisierungsrate steigt. Immer mehr Frauen gehen ihren eigenen Weg, erobern neue Studienbereiche und verschaffen sich Gehör. Einmal hat jemand zu mir gesagt: „Mach das lieber nicht, das ist nichts für dich oder für eine Frau“. Aber wir sind hier, um ihnen das Gegenteil zu beweisen, und unsere Rechte und unsere Freiheit einzufordern.
Ein Beitrag von Sai Prasanna Lakshmi Guluru, Übersetzung Vicente Ferrer Stiftung Deutschland
Über die Autorin:
Sai Prasanna Lakshmi Guluru (geb. 1995 in Anantapur, Indien) hat einen Abschluss in Bauingenieurswesen und besuchte von 2017-2018 die Fachschule für Sprachen der Vicente Ferrer Stiftung, um Deutsch zu lernen.