Rikschas sind aus dem indischen Straßenverkehr nicht wegzudenken. Ob zum Warentransport oder als Taxi, die kleinen Fahrzeuge sind allgegenwärtig. Eines haben sie fast alle gemeinsam: sie werden von Männern gefahren. Um das zu ändern, Frauen den Zugang zum öffentlichen Raum zu ermöglichen und Geschlechterbarrieren zu überwinden hat die Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT) ein Rikscha-Projekt initiiert.
Im Rahmen des Projekts lernen Frauen Autofahren, die Nutzung mobiler Taxi-Apps und eignen sich grundlegende Kenntnisse der Automechanik an. Sie belegen Selbstverteidigungs- und Erste Hilfe-Kurse und werden so befähigt, eigenständig und unabhängig als Rikscha-Fahrerinnen zu arbeiten.
Eine der ersten Teilnehmerinnen des Rikscha-Projekts ist Nagalakshmi. Sie ist 30 Jahre alt und zieht ihren 16-jährigen Sohn Dhanujaya und ihre 14-jährige Tochter Dhanalakshmi nach dem Tod ihres Mannes allein groß. Der frühe Tod ihres Mannes hat Nagalakshmis Leben komplett auf den Kopf gestellt. Verwitwete Frauen gelten in Indien als Unglücksbringer. Zu Unrecht werden sie für das Ableben ihrer Männer verantwortlich gemacht und von der Gesellschaft fortan gemieden. Das Umfeld erwartet, dass sich die verwitweten Frauen sozial isolieren und den Rest ihrer Tage zu Hause verbringen.
„Wenn ich früh zur Arbeit ging, beschimpften mich die Nachbarn. Sie sagten, dass ich als Witwe das Haus nicht verlassen sollte“, erinnert sich Nagalakshmi. Nicht einmal ihre Familie half ihr in dieser schwierigen Situation und deswegen musste sie für sich und ihre Kinder sorgen und ihren eigenen Weg gehen. Heute ist sie eine der ersten weiblichen Rikscha-Fahrerinnen in Anantapur und Vorbild für viele andere Frauen und Mädchen in Indien. „Ich finde es großartig, dass meine Mutter Rikscha fährt. Die anderen Frauen sehen sie als Inspiration, wenn sie sie fahren sehen“, erzählt Nagalakshmis Tochter Dhanalakshmi stolz.
Nagalakshmis steiniger Weg
„Es gibt Tage, an denen ich traurig zurückblicke. Ich wurde im Alter von 11 Jahren mit einem Mann verheiratet, der viel älter und bereits mehrmals verheiratet war – ich war seine fünfte Frau“, erzählt sie. Nagalakshmi musste damals die Schule abbrechen, ihr Dorf und ihre Familie verlassen und zu ihrem Mann und den Schwiegereltern ziehen. Es war eine schwere Zeit für Nagalakshmi, sie war noch ein Kind, als sich ihr Leben plötzlich für immer änderte. Heute, viele Jahre später, geht es ihr auch dank der Teilnahme am Rikscha-Projekt der Stiftung so gut wie nie zuvor.
„Als die Menschen erfuhren, dass ich jetzt Rikscha fahren lerne, wollten sie mir nicht glauben. Bisher gab es keine Frau in meinem Dorf, die Auto oder Rikscha fahren konnte. Jetzt, da sie mich mit der Rikscha fahren sehen, haben mich schon viele Leute beglückwünscht und mir zu meinem Mut gratuliert. Rikscha fahren ist nicht nur etwas für Männer, sondern auch für Frauen. Es ist eine gute Möglichkeit für uns Geld zu verdienen“, sagt Nagalakshmi. Mit ihrer Rikscha befördert sie nicht nur Menschen, sondern auch Obst oder Gemüse. Dieses kauft sie auf einer entfernt gelegenen Farm ein und verkauft es dann mit Gewinn weiter.
Mit der Rikscha zur Gleichberechtigung
Dank der Rikscha kann Nagalakshmi voller Zuversicht in die Zukunft schauen. Doch nicht nur Nagalakshmi profitiert vom Rikscha fahren, auch die Passagiere. Für Frauen und Mädchen in Anantapur ist Nagalakshmis Rikscha zu einem sicheren Transportmittel geworden, das sie ohne Angst nutzen können und sie wohlbehalten an ihr Ziel bringt.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen dauert es beim derzeitigen Fortschritt noch etwa 300 Jahre, bis eine globale Gleichberechtigung von Frauen und Männern erreicht sein wird. Für alleinerziehende Mütter und Witwen mit minderjährigen Kindern ist die Lage noch schlimmer. Nach offiziellen Angaben gibt es in Indien rund 46 Millionen Witwen und zusätzlich 13 Millionen alleinerziehende Mütter. Für diese Frauen sind ein eigenes Einkommen und finanzielle Unabhängigkeit eine zwingende Notwendigkeit, um den Teufelskreis von Armut und Diskriminierung zu durchbrechen.
Die Ausbildung von Frauen und ihr Einritt in die Arbeitswelt tragen auch dazu bei, die niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen in Indien zu verbessern. Der Großteil indischer Frauen arbeitet als Tagelöhnerinnen ohne den Schutz und die Rechte einer Festanstellung. Mit dem Rikscha Projekt etabliert die Vicente Ferrer Stiftung in Indien (RDT) eine echte Berufschance für Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen.
Nagalakshmi ist in ihrem Alltag einer dreifachen Diskriminierung ausgesetzt: als Frau, Witwe und Angehörige einer sozial benachteiligten Gruppe musste sie immer wieder Rückschläge einstecken. Mit ihrer Rikscha erobert sie heute nicht nur die Straße, sondern auch den öffentlichen Raum und hat es geschafft finanziell eigenständig zu sein.
Text: Eva Galindo Soriano Übersetzung: Vicente Ferrer Stiftung in Deutschland